BGH-Urteil: Apothekensterben reicht nicht
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in der vergangenen Woche Rx-Boni der Versender auf Grundlage der alten Rechtsprechung für zulässig erklärt. Jetzt liegt die Urteilsbegründung vor. Es fehlten nicht nur Daten, die Karlsruher Richter bezweifeln auch, dass das Apothekensterben die flächendeckende Versorgung gefährdet.
Der BGH wies eine Klage des Bayerischen Apothekerverbands (BAV) gegen DocMorris beziehungsweise die Tochterfirma Taminis ab. Die Richter beziehen sich auf die alte Regelung nach § 78 Arzneimittelgesetz (AMG), die aber nach dem EuGH-Urteil unionsrechtswidrig gewesen sei und daher nicht auf ausländische Versender angewendet werden durfte.
Keine Daten, keine Evidenz
„Es ist nicht mit statistischen Daten oder vergleichbaren Mitteln belegt, dass eine gleichermaßen für inländische Apotheken wie für europäische Versandapotheken geltende Arzneimittelpreisbindung eine geeignete Maßnahme zur Sicherstellung der bestehenden Apothekendichte ist, und es ist auch nicht nachgewiesen, dass der Erhalt des Status quo der Apothekendichte für die flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung mit Arzneimitteln erforderlich ist“, heißt es im Urteil.
„Die Chance, die Entwicklung des Apothekenmarkts in den unregulierten und regulierten Zeiträumen gegenüberzustellen und einer wissenschaftlichen Auswertung zu unterziehen, blieb ungenutzt.“
Versorgung nicht in Gefahr
Es fehlen somit die geforderten „harten Fakten“, um die gesetzliche Einschränkung zu rechtfertigen. Die sinkende Apothekenzahl stehe zwar außer Frage, doch sehen die Richter infolge der Schließungen keine Gefahr für die flächendeckende Versorgung. „Rückläufige Betriebsergebnisse und ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl der Präsenzapotheken seit dem Jahr 2000 bedeuten im Übrigen nicht zwangsläufig eine Gefährdung der flächendeckenden, sicheren und qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln.“
Warum das Rx-Boni-Verbot geeignet und angemessen sei, die Gesundheit und die flächendeckende Versorgung zu sichern, wurde nicht ausreichend belegt. „Der Erhalt des Status quo der Apothekendichte mag deshalb für sich genommen zwar wünschenswert sein. Es ist aber weder festgestellt noch vorgetragen, dass er unabdingbare Voraussetzung für eine flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln ist“, so die Richter.
Zudem drehen die Richter die vorgelegten Argumente um. „Die im Streitfall vorgelegten Unterlagen sprechen außerdem dafür, dass mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln dadurch fördern würde, dass Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt würden, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten.“
Die Karlsruher Richter sind zudem der Meinung, dass die Annahme, dass eine flächendeckende sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung durch eine nationale Preisbindungsregelung wie diejenige des § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG aF erreicht werden könne, nicht auf einer validen Datengrundlage beruhe.
Auch Bundesregierung hatte Chance vertan
Außerdem hat die Bundesregierung aus Sicht der Richter die Chance im Vorabentscheidungsverfahren „Deutsche Parkinson Vereinigung“ nicht genutzt, die Entwicklung des Apothekenmarkts in den unregulierten und regulierten Zeiträumen gegenüberzustellen und einer wissenschaftlichen Auswertung zu unterziehen. „Auch ein Ergebnis der in § 129 Abs. 5f SGB V vorgeschriebenen Evaluation der Auswirkungen der Preisbindungsregelung des § 129 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB V auf die Marktanteile von Apotheken und des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist nicht bekannt.“
Versandanteil stabil
Hinzukomme, dass sich den Feststellungen des Berufungsgerichts zum Marktanteil EU-ausländischer Apotheken am Rx-Markt in Deutschland entnehme lasse, dass sich der Marktanteil ausländischer Versandapotheken seit Jahren relativ stabil im Bereich von 1 Prozent bewege – und zwar sowohl im preisregulierten und unregulierten Zeitraum. Es sei nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass die stationären Apotheken ebenfalls derartige Rabatte gewähren müssten, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Keine Wiederholungsgefahr
Die Karlsruher Richter haben außerdem eine Wiederholungs- und Erstbegehungsgefahr ausgeschlossen. „Weder besteht eine Wiederholungsgefahr, weil die Beklagte nicht gegen die erst am 15. Dezember 2020 in Kraft getretene Vorschrift des § 129 Abs. 3 Satz 3 SGB V verstoßen hat, noch begründet das Prozessverhalten der Beklagten eine Erstbegehungsgefahr.“
„Im Streitfall sind keine Umstände festgestellt oder von dem Kläger geltend gemacht worden, die den Schluss rechtfertigen könnten, die Beklagte habe nicht nur ihren Rechtsstandpunkt vertreten, sondern habe erkennen lassen, dass sie beabsichtige, ihren Geschäftsbetrieb wiederaufzunehmen und erneut Rabattaktionen der beanstandeten Art durchzuführen.“
Lichtblick
Ein EuGH-Verfahren schließen die Richter dennoch nicht aus. „Die Frage, ob § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG aF mit dem Primärrecht der Europäischen Union vereinbar ist, ist vielmehr unter bestimmten Umständen einer erneuten Prüfung zugänglich“, so die Richter.
Es sei also nicht ausgeschlossen, dass in einem anderen Verfahren, in dem die Frage der Vereinbarkeit des deutschen Arzneimittelpreisrechts mit dem Primärrecht der Europäischen Union in Streit steht, Feststellungen zu einer gleichmäßigen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung in Deutschland nachgeholt werden können. Zudem könnten sich in dem Verfahren neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben, die den EuGH dazu veranlassen können, die Rabattfrage vor diesem neuen Hintergrund abweichend zu beantworten. Dazu brauche es jedoch entsprechende Belege in „schlüssiger Weise“.
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